Herr Petzet, Sie initiierten in München schon mehrere Protestaktionen gegen den Abriss von Gebäuden. Warum?
Muck Petzet: Diese Gebäude stehen beispielhaft für unzählige Bauwerke aus den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren, die heute als unzeitgemäß und wertlos gelten – und deshalb gerne abgerissen werden. Die Protestaktionen richteten sich vor allem gegen die Haltung, die dahintersteckt, und fordern ein generelles Umdenken beim Umgang mit unserem Gebäudebestand. Gebäude stellen an sich schon einen hohen Wert dar – allein aufgrund der Tatsache, dass es sie gibt. Wir sollten sie nicht als Wegwerfprodukt betrachten.
Es geht Ihnen also nicht um Denkmalschutz?
Nein, es geht mir nicht um Denkmalschutz, nicht um die Trennung des Gebäudebestands in einen kleinen erhaltenswerten und einen großen nicht erhaltenswerten Teil, sondern um ein generelles Umdenken: Jedes Gebäude ist prinzipiell erhaltenswert, weil in ihm große Mengen Grauer Energie gespeichert sind.
Was ist Graue Energie?
Als Graue Energie bezeichnet man die Energie, die ein Produkt für seine Entstehung und für seine spätere Entsorgung benötigt. Bei Gebäuden ist das die Energie, die „unsichtbar“ in den Bauteilen „steckt“ und deren Größenordnung meist völlig unklar bleibt. Die Energieeinsparverordnung (EnEV) und die ganzen Diskussionen um Energieeffizienz drehen sich immer nur um den Heizenergiebedarf während der Nutzungsphase eines Gebäudes. Da ein Gebäudenutzer die Energie zum Heizen ständig „einkaufen“ muss, hat er ihre Dimension als Geldwert unmittelbar vor Augen. Die Graue Energie jedoch, die ein Gebäude vor und nach seiner Nutzung braucht, bleibt meist völlig ausgeblendet, ist aber sehr hoch. Wenn wir den Klimaschutz – d.h. die deutliche Reduzierung der CO2-Emissionen – als Ziel wirklich ernst nehmen, müssen wir die heutige verbrauchszentrierte Betrachtung durch eine Betrachtung des gesamten Lebenszyklus ersetzen.
Wie hoch ist die Graue Energie?
So pauschal lässt sich das nicht sagen, weil die Gebäude viel zu unterschiedlich sind und sich somit schlecht vergleichen lassen, aber Berechnungen zeigten, dass die Graue Energie meist so hoch ist wie der Heizenergiebedarf für mehrere Jahrzehnte Nutzung. Stahl, Zement und Ziegel brauchen für ihre Herstellung sehr hohe Temperaturen – und um die zu erzeugen, braucht es sehr viel Energie. Diese Energie ist dann – bildlich gesprochen – im Baumaterial „gespeichert“. Und sie geht verloren, wenn das Gebäude abgerissen wird. Zudem bedeuten das Abreißen selbst und die Entsorgung des Bauschutts einen neuen Energieaufwand – und das Errichten von Neubauten noch viel mehr.
Inwieweit lässt sich der Bauschutt recyceln?
Bauschutt macht mehr als die Hälfte unseres gesamten Müllaufkommens aus. Davon wird einiges recycelt, z.B. werden Betonbauteile zu Straßenschotter verarbeitet. Das klingt erst einmal gut – ist aber radikales „Downcycling“. Der Energiegehalt der Bauteile geht verloren. Nur Stahl lässt sich gut wiederverwerten, aber sein Einschmelzen ist wiederum mit sehr hohem Energieaufwand verbunden. In der Abfallwirtschaft gilt das Prinzip der drei Rs: „Reduce / Reuse / Recycle“, auf Deutsch: „Vermeiden / Wiederverwenden / materiell Umformen“. Sie stellen keine gleichwertigen Möglichkeiten dar, sondern eine Hierarchie. Oberste Priorität hat die Vermeidung von Abfall. Im Alltag ist das eigentlich jedem klar: Die beste Lösung, Durst zu stillen, ist Leitungswasser zu trinken. Die zweitbeste ist Wasser aus der Mehrwegflasche. Die drittbeste ist Wasser aus der Einwegflasche, wenn die korrekt entsorgt wird. Die schlechteste ist Wasser aus der Einwegflasche, wenn die dann im Hausmüll und später auf der Mülldeponie landet. Die Mülldeponie jedoch ist in der Baubranche immer noch die Regel, nicht die Ausnahme. Wenn wir die Logik der Abfallvermeidungshierarchie auf das energie- und ressourcenintensive Bauen übertragen, bedeutet das vor allem: Umbau statt Neubau!
Woher kommt die Neigung, Gebäude leichtfertig abzureißen?
Bei Bauherren rührt das wohl daher, weil sie die Potenziale, die ein Gebäude meist noch besitzt, oft nicht erkennen können, aber auch weil in unserer Gesellschaft eine Wegwerfmentalität weitverbreitet ist. Bei meinen Architektenkollegen liegt es zum einen am Berufsbild, das vom Ideal des autonomen Künstlers geprägt ist, zum anderen am Selbstverständnis der modernen Architektur, die sich seit ihren Anfängen fast immer als scharfer Gegensatz zum Bestehenden definierte. Innovativ zu sein, immer wieder Neues zu schaffen, das war ihr Ideal. Das Bestehende wurde entweder radikal abgelehnt oder zumindest als störende Einschränkung des eigenen Gestaltungswillens empfunden. Es dominiert seit hundert Jahren eine Tabula-rasa-Mentalität. Die sollte verschwinden.
Mit Ihren Forderungen machen Sie sich wohl nicht gerade beliebt?
Nein, dabei geht es mir gar nicht darum, meinen Berufskollegen die Lust am Bauen zu nehmen, sondern nur um eine andere Wahrnehmung, um eine Umwertung des Gebäudebestands vom „wertlosen Müll“ zum „Wertstoff“. Das erfordert, eine andere Haltung einzunehmen. Umbauen ist aber meiner Ansicht nach genauso reizvoll wie neu zu bauen. Der Gebäudestand ist kein ärgerliches Hindernis für das Ausleben der eigenen Kreativität, sondern zwingt im Gegenteil zum Entwickeln neuer Ideen, die man ohne diese Reibung gar nicht hätte. Das Arbeiten an bestehenden Gebäuden erfordert eine sensible Herangehensweise, ist dann aber sehr inspirierend und eine hohe Kunst. Der Architekt sollte sich künftig weniger als Neuschöpfer und mehr als Interpret und Fortentwickler begreifen.
Herr Petzet, herzlichen Dank für das interessante Gespräch!